Selbstliebe heißt, sich mit den Augen Gottes zu sehen.
Mehr noch, sich als göttliches Wesen auf einer Erdenreise zu sehen. Selbstliebe fordert heraus, in einer nicht blasphemischen Art und Weise, den äußeren Dialog mit Gott nach innen zu verlegen, sich selbst als ein Fragment von Gott zu sehen. Bist du bereit, dem Göttlichen in dir ganz zu vertrauen? Alle Selbstzweifel sterben zu lassen? Dich nicht mehr zu vergleichen, auf- oder abzuwerten, dich nicht mehr selbst zu richten oder andere? Ultimative Selbstliebe und Mitgefühl heißt, alle deine Aspekte aus dem Herzen zu lieben. Die guten, die nicht so guten, die schönen, die nicht so schönen, die hässlichen und nicht so hässlichen. Das erfordert dein ganzes Herz!
Den Schatten, die unbewussten Anteile in sich und im Gegenüber zu schätzen funktioniert nur aus einem liebenden Herzen heraus und nicht aus den wertenden Ebenen des Verstandes. Wer mit bestimmten Bildern von sich selbst identifiziert ist, wird es schwer haben, diese Perspektive aufzugeben. Selbstliebe ist eine hohe Kunst und setzt das weite Herz des Mystikers voraus, der sich in jedem und allem sieht und sagen kann: Tat tvam asi – das bin ich auch! Der nicht nur sich, sondern das Eine in jedem und allem sehen kann.
Selbstliebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch eine zu kultivierende Denk- und Fühlhaltung. Die Weisen üben sich in Liebe. Sie ertappen sich dabei, wenn sie aus der Liebe fallen, und rufen sich erneut hinein in den Raum der Liebe. Sie richten sich nicht, sondern gehen gnädig um mit ihrem eigenen Fallen und dem der anderen. Es sind diese nicht-wertenden, nicht-vergleichenden nicht-wissenden Haltungen der Selbst- und All-Liebe, die gewährleisten, nicht in den Fixierungen des Verstandes hängen zu bleiben. Liebe ist eine ewige Übung, die jeden täglich vor neue Herausforderungen stellt.
Manchmal versagen wir an ihr, doch die Kultivierung des liebenden Herzens allen Situationen und Menschen gegenüber lässt die Präsenz des heiligen Herzens wachsen. Es geht primär nicht um Wissen, sondern um Liebe. Präziser: um in Liebe angewandte Weisheit, die geführt ist aus einer unmittelbaren Quelle. Das angesammelte Wissen der Vergangenheit spielt hierbei keine Rolle.
Übe dich jeden Tag in Liebe
Ein Beispiel aus den Seminaren mag dies näher erläutern. Ich habe das Privileg, mit sehr tiefen, mystisch wachen Menschen in den Retreats zusammenzuarbeiten, und was hier passiert oder was sie träumen, erscheint wie eine einzige große Choreografie. Ein bestimmtes Retreat, welches das Ziel hat, in jedem Einzelnen die radikale Präsenz der Mystiker freizusetzen, nennt sich Sieben Herzen. Auch in ihm geht es um die Grundlagen der Manifestation.
Dort, wo Geist auf Materie trifft, pulsiert das Geheimnis der Schöpfung. In jedem Menschen gibt es einen solchen Ort: das Herz. In dem Paradoxon dieses Raumes verbinden sich Himmel und Erde, Geist und Materie zu einem lebendigen Pochen. Wir hören, fühlen und sind der Herzschlag des Universums. Lauschen wir dem Herzschlag eines anderen Menschen, verbinden wir uns gleichzeitig mit dem Herzen des Universums, das durch alle Herzen hindurchtönt. An genau diesem Ort entfaltet sich die Schönheit unserer Seele auf ihrem Weg von der Zeitlosigkeit in die Zeit. Die Adepten, Hohepriester, Schamanen und Hierophanten träumen und erahnen die Bedeutsamkeit des pulsierenden Feldes in der Mitte unserer Brust. Auf unterschiedliche Weisen suchen sie die Gottesfrequenz in unseren Herzen zu aktivieren.
Die sieben Herzen der Mystik, so wie sie sich in klarer Schau gezeigt haben, sind nicht zu verwechseln mit der Lehre von den sieben Chakren, sondern stellen unmittelbare Weisen dar, sich dem Geheimnis der dahinterliegenden Gottesfrequenz hinzugeben. Sie verwurzeln den Geist in unserem Sein und führen zur radikalen Präsenz der Mystiker. Im Retreat werden daher sechs individuelle Wege erkundet, wachgerufen, auf ihre Wirksamkeit überprüft, um in das siebte, das göttliche Herz zu gelangen. Es wird vorher nicht gesagt, um welche sechs Herzen es sich handelt.
Unsere Träume sind Leitern zum Herzen
Auf dem ersten Seminar dieser Art in der ersten Nacht träumte ein Teilnehmer, der ein begnadeter Heiler ist, das Thema vorweg:
„Ich stehe auf einer grünen Wiese, und vor mir befindet sichein Altar, bedeckt mit einem edlen, weißen Tuch. Auf diesem Altar liegen sechs schwarze Boxen. Ich weiß im Traum, dass es darum geht, diese Boxen zu öffnen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Es ist mir ein Rätsel.Da taucht rechts von mir ein vielleicht elfjähriger Junge mit blauen, blitzenden Augen auf und sagt: »Das ist doch ganz einfach!« Er führt eine unmittelbare, wahnwitzig schnelle Kung Fu-Bewegung in der Luft aus, verbunden mit einem Geräusch, und die Boxen öffnen sich von selbst. Der Junge lächelt. Ich bin total überrascht und weiß nicht, wie er das geschafft hat. Dann steht hinter dem Altar plötzlich eine Hohepriesterin. Sie überreicht mir ein Buch, und es geht darum,das Buch zu lesen beziehungsweise seinen Inhalt zu verstehen. Es ist jedoch in einer mir völlig unbekannten Sprache verfasst. Sie sagt mir, es würde sich mir nur entschlüsseln, wenn ich die »Ergänzung« fände. Wiederum habe ich keine Ahnung, was sie genau damit meint. Die Ergänzung? Ich drehe mich um und sehe auf der Wiese Tausende von Menschen herumlaufen. Alle auf der Suche nach der Ergänzung! Ich schaue sie an und gehe dann an den Rand der Wiese. Dort habe ich einen Hund liegen sehen. Ich streichele den Hund und schenke ihm meine Liebe. In diesem Moment verwandelt sich der Hund in die Priesterin, und sie überreicht mir … die Ergänzung. Ein zweites Buch, mit dessen Hilfe ich das erste verstehen kann. Wiederum bin ich völlig überrascht und wache auf.“
Das Faszinierende an diesem Traum ist die offene und stoische Haltung des Träumers, der sich von seiner eigenen Ahnungslosigkeit nicht verrückt machen lässt, sondern in der Situation verweilt, bis sie sich neu offenbart. Nicht sein Wissen führt zur Lösung, sondern seine liebende Haltung zur Weisheit. Sein Vertrauen in den Fluss des Lebens. Auf meine Frage, wie er ausgerechnet auf den Hund gekommen sei, antwortet er: »Das war der Einzige, der nicht gesucht hat.«
Wissen sucht. Liebe liebt. Weisheit findet. Sich selbst gerade in den Momenten zu lieben oder in der Liebe zu verweilen, in denen wir nichts wissen oder nichts kontrollieren können, ist die große Herausforderung. Selbstliebe heißt, sich selbst in der Liebe halten zu können, sich in etlichen Situationen auch aushalten zu können. Das Unperfekt-Sein in sich umarmen und lieben zu können. Keine Bedingung oder Leistung an diese Form von Liebe zu knüpfen. Selbstliebe in ihrer höchsten Form bedeutet: Sich ganz als göttliches Wesen anzunehmen. Nicht zu wissen und dem Göttlichen in sich ganz zu vertrauen. Jetzt kann manifestiert werden.
Auszug aus: THOMAS YOUNG, LEBE DEIN MOMENTUM
(Trinity Verlag, München 2017)